Die Ausgangslage:
Verbraucherorganisationen, Ärztvereinigungen, Krankenkassen und andere gesundheitsorientierte Organisationen forderten eine Lebensmittelkennzeichnung mit dem “Ampelsystem”, mit einem grünen Symbol für gesundheitsbewußte und einem roten Symbol für besonders fett-, zucker- oder salzhaltige Produkte. Dem gegenüber stand die Lebensmittelindustrie, vertreten durch die CIAA (The Confederation of Food and Drink Industries), die die Packungs-Beschriftung auf die einfarbige Angabe eines Richtwertes für die Tagesmenge (der keinen ausdrücklichen und leicht erkennbaren Hinweis auf Zucker- und Fettgehalte gibt) beschränkt wissen wollte.
Die aus diesen gegensätzlichen Standpunkten resultierende Diskussion und damit verbundenen Aktivitäten beschreibt der schwedische EU-Parlamentarier Carl Schlyter (Mitglied der Grünen) als eine der größten Lobbyschlachten, die Brüssel je gesehen hat. Eine Schätzung von Corporate Europe Observatory (CEO) geht davon aus, dass die Lebensmittelindustrie ca. 1.Milliarde Euro für die Verhinderung derAmpel ausgegeben hat.
Dutzende von E-Mails überschwemmten die Abgeordneten, sie wurden zu Informationsveranstaltungen eingeladen, Telefonate zur weiteren Beeinflussung waren an der Tagesordnung. In einem Interview mit dem Blog Brussels Sunshine sagt Schlyter über die Zeit vor der Abstimmung: “Industrie Lobbyisten waren ständig hinter mir her und versuchten mich zu beeinflussen.” Dass er sich einer besonderen Aufmerksamkeit erfreuen durfte, verdankt er seiner Rolle als sog. “shadow rapporteur”.
Die Rolle dieser “Schattenberichterstatter” ergibt sich aus der Arbeitsweise des Parlaments. Wenn ein Thema zum Beratungsgegenstand des Parlaments wird, wird ein Berichterstatter bestimmt, der ein Dossier zu diesem Thema erarbeitet. Um die Ansichten möglichst aller Beteiligten Gruppen in dieses Dossier einfliessen zu lassen, bestimmen die einzelnen Gruppen jeweils einen eigenen Beauftragten für dieses Thema. Diese Beauftragten werden als “shadow rapporteur” bezeichnet.
Auf die Frage nach den Kräfteverhältnisse der Lobbygruppen Industrie versus Verbraucher sagt Schlyter im Interview: “Im Allgemeinen ist es so, dass ca. 84% der Lobbygruppen auf die Industrieinteressen entfallen und 16 % auf das öffentliche Interesse. Im Fall der Lebensmittelampel würde ich sagen, dass 90 – 95% auf die Industrie entfielen und der Rest auf die Verbraucherinteressen.”
Zwar betreffen 90-95% der Ausnahmen bei der Lebensmittelkennzeichnung kleine und sehr kleine Unternehmen, analysiert man jedoch die Zusammensetzung der Lobbygruppen und wo sie herkommen, dann trifft man überwiegend auf Großunternehmen. Die aktivsten Interessengruppen an der Lobbyfront waren die des Handels, der Hersteller von Fertiggerichten und die Hersteller von Softdrinks.
Das offensichtlich bestehende Missverhältnis zwischen den Möglichkeiten einer direkten Einflussnahme der Industrie auf die Abgeordneten des europäischen Parlaments und den äußerst beschränkten Möglichkeiten einer offensiven Darstellung von Verbraucherinteressen kann nur als ein Problem der Demokratie verstanden werden.
Die Abgeordneten des europäischen Parlaments sind durch ihre Wähler beauftragt worden deren Interessen als Bürger und Verbraucher wahr zu nehmen. Entscheidungen wie die zur Lebensmittelampel lassen jedoch den Eindruck entstehen, als sei inzwischen die Industrie zum Auftraggeber der Abgeordenten geworden. Ein Rollentausch der nicht gewollt sein kann.
Die Redaktion der Bürgerlobby hat es sich zur Aufgabe gemacht, am Beispiel der Lebensmittelampel aufzuzeigen, mit welchen Aktionen Wirtschaftslobbyisten Einfluss auf die Entscheidungsfindung des europäischen Parlaments genommen haben und wie Druck auf Abgeordnete ausgeübt wurde.