Grüne Positionsbeschreibung als allgemein gültiger Politikentwurf?

30. November 2009 | von Dieter Klemke | Kategorie: Gesellschaft, Politik

In der Frankfurer Rundschau vom 26.10.2009 hat die Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen, Renate Künast zwar “nur” die Position ihrer Partei beschrieben und “nur” den “grünen Blick” auf die Gesellschaft dargestellt. Dies aber in einer so allgemein zutreffenden und die Parteigrenzen überschreitenden Weise, dass wir diese Gedanken länger ins Licht der Öffentlichkeit stellen wollen.

Wir danken Frau Renate Künast und der  FRANKFURTER RUNDSCHAU deshalb ganz besonders für die freundliche Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung des Beitrags auf unserer Seite.

Die Grünen wollen die Mitte
Von Renate Künast

Mit der Bundestagswahl hat es die schwarz-gelbe Koalition des Alten nochmals geschafft. Obwohl wir Grünen mit 10,7 Prozent unser bestes Ergebnis auf Bundesebene geholt haben, reichte es nicht. Der Absturz der SPD hat sämtliche machtpolitischen Alternativen mit sich gerissen. In den Ländern ist einiges in Bewegung geraten. Für die grüne Partei geht es jetzt darum, die Botschaft des eigenen Ergebnisses und ihren Platz im Fünf-Parteien-System auszufüllen.

Unser Vordringen in Wählerschichten weit jenseits der klassischen Grünen-Wählerschaft spiegelt sich symbolhaft in der Sitzordnung im Deutschen Bundestag: Wir Grünen stehen politisch dort, wo wir sitzen: gesellschaftspolitisch mittendrin.

Grün ist kein exklusiver Lebensentwurf am gesellschaftlichen Rand mehr. Unsere Wähler leben in verschiedenen Beziehungsformen, haben schulpflichtige Kinder und erstrecken sich über alle Altersgruppen. Sie lieben die Gartenarbeit genauso wie das Surfen im Internet. Ein beträchtlicher Teil ist religiös gebunden.

Grün, das ist ein Lebensentwurf in der Mitte der Gesellschaft. Dies spiegelt sich in städtischen Ballungsräumen zunehmend in Wahlergebnissen. In diesen Gebieten sind wir zur Volkspartei geworden. Die gesellschaftliche Mitte wird heute von anderen Werten bestimmt als noch vor 30 Jahren, sie ist deutlich grüner geworden. Und das Fünf-Parteien-System ist nicht mehr nur abstrakt, es bestimmt zunehmend die politische Willensbildung und vor allem die Mehrheitsfindung.

Auch das ist neu nach den vielen Jahren, in denen Volksparteien breite Schichten und Milieus an sich binden konnten. Die SPD ist als erste mit der Erosion ihrer Milieus konfrontiert, der Union sollten 15 Wahlen in Folge mit zum Teil dramatischen Stimmverlusten einen Vorgeschmack auf das gegeben haben, was ihr bevorsteht.

Keine Koalitionen ohne sehr deutliche grüne Inhalte

Trotzdem hat Schwarz-Gelb noch einmal eine parlamentarische Mehrheit erreicht, und etliche Kommentatoren sehen ein linkes Lager in der Opposition. Doch für schnelle Antworten ist es noch zu früh, für vermeintlich festgefügte Lagerbildungen allemal. Jetzt braucht es eine grüne Partei, die mutig auf den Ausbau eines “grünen Lagers” setzt, statt nur die Signale auf den bekannten lagerinternen Rangier-Bahnhöfen zu bedienen.

Die strategische Ausgangslage eines “grünen Lagers” lautet: keine Koalitionen ohne sehr deutliche grüne Inhalte. Die Glaubwürdigkeit – und damit der Wahlerfolg – eines grünen Lagers hängt an den Inhalten, nicht an den Farbzusammensetzungen, in denen sie umgesetzt werden sollen.

Im Bundestag sind die vergangenen vier Jahre für mehr Eigenständigkeit genutzt worden, in den Ländern bewegen wir uns längst jenseits der alten Lager. In Bremen, Hamburg und im Saarland koalieren Grüne in unterschiedlichen Konstellationen. Grundlage dafür ist der Anspruch, grüne Handschrift zu zeigen, grüne Inhalte zu Politik zu machen und Erwartungen unserer Wählerinnen und Wähler an mehr Klimapolitik, an mehr soziale Gerechtigkeit, an mehr Freiheit und an bessere Bildung für alle zu erfüllen. Ob das jeweils Erfolge werden, muss sich herausstellen. Manches spricht dafür. Ein Zurück gibt es nicht, weil dies Ausdruck und logische Folge unseres eigenen Erfolges ist.

Der Ausbau der grünen Möglichkeiten kann kein Selbstzweck sein. Mögen sich andere in Sandkastenspielen ergehen, Leihstimmen und Wählerwanderungen für sich reklamieren, Stimmenanteile wie Bruttoregistertonnen behandeln. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht immer das Bewusstsein, dass uns Menschen ihr Vertrauen geschenkt – nein, geliehen haben.

Die “Verantwortungs-Mittelschicht”

Wir haben ihnen mit unserem neuen grünen Gesellschaftsvertrag ein programmatisches Angebot vorgelegt. Die Menschen erwarten, dass wir diesen Gesellschaftsvertrag mit ihnen einlösen, ihn zu alltäglicher Politik werden lassen. Diese Menschen erwarten politische Kreativität und wir sollten den Mut haben, diese zu geben, der Künstlerin, dem Studenten, der Angestellten, der Schichtleiterin, dem Facharbeiter, der Selbstständigen, dem Landwirt, der Beamtin, den Menschen in vielfältigen Lebensentwürfen.

Die soziale Basis des “grünen Lagers” ist genau dieser Teil der Mittelschicht, der im Lebensalltag Verantwortung übernimmt und sich verantwortlich für das Gemeinwesen fühlt. Diese “Verantwortungs-Mittelschicht” gruppiert sich allerdings nicht einfach nach Einkommensgruppen, sondern teilt den Willen zum gemeinwohlorientierten Handeln für das Heute und für die Zukunft.

Diese Mitte weiß, dass Grüne nie zu den Propheten des Marktes gehört haben, ebenso wenig reihen wir uns ein in eine neue Staatsgläubigkeit. Gerade die ökologische Debatte und die aktuelle Krise hat uns gelehrt, dass es ein “Marktversagen” und ein “Staatsversagen” gibt. Unsere Wirtschaftspolitik ist werteorientiert, sie setzt auf die Entkoppelung von Wachstum und Verbrauch, auf die Stärkung eines verantwortlichen Unternehmertums. Die Bewertung von Fortschritt und Wohlstand an der Größe des Bruttoinlandsproduktes ist ein zu überwindendes Überbleibsel des Industriezeitalters. Wachstum so verstanden ist längst an seine Grenzen gestoßen.

Den Klimawandel zu thematisieren, ist inzwischen kein politisches Alleinstellungsmerkmal mehr. Den Handlungszwang ökonomisch zu untermauern und gleichzeitig Zukunftsmärkte zu beschreiben, kann als etabliertes Feld politischer Auseinandersetzung betrachtet werden. Ein Alleinvertretungsmerkmal erwächst den Grünen aus immens hoher Glaubwürdigkeit und aus der bewiesenen handwerklichen Fähigkeit zum Umbau.

Ausruhen werden wir uns darauf nicht. Jetzt geht es um die Entwicklung neuer Strukturen und Handlungsmaximen. Stellvertretend steht dafür der Atomausstieg. Hier geht es nicht nur um Laufzeitverlängerungen, sondern darum, im zentralen Energiebereich endlich die alten Oligopole aufzubrechen, für Wettbewerb und dezentrale Strukturen zu sorgen, und dabei Energieproduktion und Klimapolitik miteinander zu vereinbaren.

Nur so kann das solare Zeitalter gelingen. Die Energiepolitik ist einer der Orte, an dem wir Grünen exemplarisch zeigen müssen, dass wir klima- und energiepolitische Bündnisse bis weit in die Mitte der Gesellschaft schließen wollen und können: mit Unternehmern, mit Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden etc. Hier entscheidet sich, ob uns eine weitere Ausdehnung der grünen Politik in der Mitte der Gesellschaft gelingen kann.

Unsere Konzepte sind in der Mitte angekommen

Gleiches gilt für unsere Beiträge für mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit, bessere Bildung für alle. Wo es uns gelingt, breitere Bündnisse in der Mitte der Gesellschaft zu schließen, wo es uns gelingt, die alltäglichen drängenden Probleme von guter Bildung bis neue Jobs ernst zu nehmen und Antworten und Lösungen zu finden, wo es uns gelingt, unseren grünen neuen Gesellschaftsvertrag auf den verschiedenen Ebenen umzusetzen, können wir als Grüne der gesellschaftlichen Mitte immer stärkere Grüntöne geben.

Es ist offen, ob die SPD einen erkennbaren Kurs findet, ob die Linke Europa als politischen Handlungsrahmen endlich akzeptiert, ob die FDP erkennt, dass Solidarität zum gesellschaftlichen Zusammenleben einer aufgeklärten Gesellschaft gehört und die Union sowohl dem C als auch dem D in ihrem Namen gerecht werden will. Der grüne Weg ist klar: Wir werden selbstbewusst und eigenständig das Gegenmodell zur Regierung darstellen.

Unsere Konzepte sind in der Mitte angekommen. Wir vertreten und werben um den Teil der Gesellschaft, der Verantwortung für das Ganze empfindet. Wir vertreten im Parteiengefüge Mitte-Links, machtpolitisch entscheiden wir nach Inhalten. Grün könnte damit der Gewinner des Fünf-Parteien-Systems sein. Haben wir den Mut dazu!

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