Türken, wie steht’s?
Achtung: Lesen gefährdet die Dummheit!

Den Faktencheck, den Plasberg in seiner Sendung zum Thema Integration nicht geschafft hat, veröffentlichte DIE ZEIT in Ausgabe 44/2009. Martin Spiewak stellt hier eine neue Studie zu den Behauptungen über Zuwanderer vor. Wir dürfen den Beitrag mit freundlicher Genehmigung der ZEIT Redaktion nachdrucken. Vielen Dank, es dient einer guten Sache – der Förderung der Objektivität.

Man könnte eine Integrationsdebatte auch so beginnen, mit guten Nachrichten: Einwanderer haben laut nationalem Bildungsbericht häufiger einen Hochschulabschluss als Deutsche. Erziehungswissenschaftler haben herausgefunden, dass Migrantenschüler lieber zur Schule gehen als ihre einheimischen Klassenkameraden. Drei Viertel der Teilnehmer an den Integrationskursen, informiert das Bundesamt für Migration, buchen den Deutschunterricht aus freien Stücken.

Alle drei Meldungen stimmen – im Gegensatz zu den meisten Aussagen, mit denen Thilo Sarrazin seine These von der gescheiterten Integration insbesondere der türkischen Zuwanderer untermauert. Doch auf wenigen politischen Feldern hängt das Urteil so stark vom Standpunkt des Betrachters ab wie in der Zuwanderungspolitik. 50 Jahre nachdem die ersten Gastarbeiter aus den Zügen stiegen, präsentieren sich die Einwanderermilieus so facettenreich und widersprüchlich wie die deutsche Gesellschaft – und geben Beispiele für jede Art von Behauptung.

Große Teile der türkischen Einwanderer seien nicht integrationsfähig und integrationswillig, meint Thilo Sarrazin. Liest man die neueste bislang unveröffentlichte Studie des Zentrums für Türkeistudien , muss man zum Schluss kommen: An dem Verdikt ist nicht viel dran. Seit zehn Jahren befragen die Wissenschaftler die Angehörigen der größten Migrantengruppe nach Einkommen, Wohnsituation und Sprachkenntnissen. Bis heute bleibt danach etwa die Hälfte der Deutsch-Türken ohne Berufsabschluss. Vergleicht man die zweite Generation jedoch mit der ersten, lässt sich durchaus von einem Bildungserfolg sprechen. Denn damals verfügte ein Viertel der Einwanderer über eine berufliche Qualifikation. Bei Pisa kommt jeder zweite türkische Jugendliche in der neunten Klasse beim Lesen nicht über das Grundschulniveau hinaus. Das ist dramatisch. Doch immerhin 73 Prozent verfügen laut eigener Einschätzung über gute Deutschkenntnisse, 20 Jahre vorher waren dies 26 Prozent. Nur jeder siebte Deutsch-Türke schafft das Abitur, aber die Zahl der Hochschulberechtigten steigt von Jahr zu Jahr in winzigen Schritten. Der Fortschritt in der Integration ist eine Schnecke.

Jugendliche aus anderen Auswanderernationen – Osteuropäer oder Asiaten –, darauf weist Sarrazin zu Recht hin, kommen schneller voran. Das lässt sich gut am Musterbeispiel des Schulerfolgs zeigen, den Vietnamesen. Ähnlich wie Türken leben viele Ostasiaten unter prekären Umständen. Zu Hause sprechen sie kaum deutsch. Dennoch schaffen ihre Kinder häufiger den Sprung aufs Gymnasium als Deutsche. In einem Punkt unterscheiden sich die vietnamesischen Schüler aber fundamental von ihren deutsch-türkischen Altersgenossen: Ihre Eltern brachten alle einen hohen Bildungsabschluss aus der Heimat mit. Und der entscheidet in unserem Schulsystem, wo auch bei Deutschen Herkunft Zukunft bestimmt, fast alles.

Manche Deutsche glauben, Ausländereltern sei es egal, dass ihre Kinder in der Schule scheitern. Zu Unrecht, wie die Essener Wissenschaftler zeigen. Drei Viertel der türkischstämmigen Mütter und Väter streben für ihren Nachwuchs das Gymnasium an. Doch die Bildungsambitionen kollidieren mit der Unkenntnis des deutschen Schulsystems und den geringen Ressourcen, um die eigenen Kinder zu fördern.

Und wo bleiben die Abgeschotteten und Parallelweltbewohner, die Thilo Sarrazin vor allem meint? Die Essener Forscher machen sie vor allem unter den zugezogenen Heiratsmigranten aus. Sie sind demnach unser größtes Problem, weil der Prozess der Einwanderung mit ihnen jedes Mal neu beginnen muss. Jedoch ist die Zahl der Integrationsverweigerer sehr viel niedriger, als es die Dauerdebatte über sie nahelegt. So pflegen 90 Prozent der türkischstämmigen Einwanderer regelmäßige Kontakte zu Deutschen : in der Verwandtschaft, zu Nachbarn oder bei der Arbeit. Vier von fünf leben in Vierteln, in denen deutsche Familien in der Mehrheit sind oder sich mit türkischen die Waage halten. Und nur eine Minderheit der Minderheit isoliert sich bewusst von deutschen Einflüssen, nach Angaben der Essener Forscher zwei Prozent.

Keinen Keinen Beleg gibt es für Sarrazins Behauptung, 70 Prozent der türkischen und gar 90 Prozent der arabischen Bevölkerung lehnten den deutschen Staat ab. Eine Umfrage der Islamkonferenz legt das Gegenteil nahe. Danach fühlen sich 70 Prozent der Muslime stark oder sehr stark mit ihrer neuen Heimat verbunden . Im Schäuble-Bericht steht das bemerkenswerte Resümee: »Sozial sind türkischstämmige Muslime gut integriert.

Umgekehrt bedeutet dies nicht, dass die Deutsch-Türken ihr Herkunftsland vergessen. Eine wachsende Mehrzahl von Einwanderern entwickelt doppelte Identitäten. Sie lesen deutsche Zeitungen und schauen türkisches Fernsehen, sie spielen im deutschen Club Fußball und engagieren sich im Moscheeverein. Und viele wollen einen deutschen Pass , ohne ihren türkischen abgeben zu müssen. Dieses Changieren zwischen den Kulturen kann beides sein: rückständig oder in einer zunehmend globalisierten Welt sehr modern. Es lohnt, genau hinzuschauen. Thilo Sarrazin hat dies nicht versucht.

Lesezeichen bei sozialen Netzwerken:
  • Twitter
  • Facebook
  • MySpace
  • del.icio.us
  • Digg
  • Identi.ca
  • Google Bookmarks
  • LinkArena
  • MisterWong.DE
  • Mixx
  • Add to favorites
  • Live
  • StumbleUpon
  • Technorati
  • Webnews.de
Bewertung: 0 votes, average: 0.00 out of 50 votes, average: 0.00 out of 50 votes, average: 0.00 out of 50 votes, average: 0.00 out of 50 votes, average: 0.00 out of 5(0 votes, average: 0.00 out of 5)
Sie müssen ein registrierter Benutzer sein, um diesen Artikel bewerten zu können.
Loading ... Loading ...

Kommentar schreiben

Sie müssen angemeldet sein um Kommentare schreiben zu können.