Liest man die Berichte über die Jugendkrawalle in England oder sieht im Fernsehen die Bilder dazu, könnte man meinen, dass die Visionen von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1971 jetzt brutale Wirklichkeit werden. Zwar sind die jungen Plünderer in den Straßen von London nicht ganz so stylish wie Kubricks Droogs und auch Beethovens Musik erklang bisher wohl weder bei den Straßenaktionen noch während der Fernsehberichterstattung, aber tollschocken können sie genauso gut wie ihre Filmvorbilder.
Dafür gibt es andere Gemeinsamkeiten zwischen Fiktion und Wirklichkeit:
Im Film wie in der Wirklichkeit leben viele der jungen Leute in den trostlosen Vierteln Londons und der anderen Städte. Ihr Leben dreht sich um Gewalt an Wehrlosen, Schlägereien mit anderen Gangs, Vergewaltigungen und Raubüberfälle. Das Rechtssystem einer verunsicherten Gesellschaft sucht nach Möglichkeiten, wie den Gewaltausbrüchen begegnet werden kann und scheint ansonsten ratlos zu sein.
Im Film wie in der Wirklichkeit stellt sich die Frage: Was sind die Ursachen für diese Gewaltexzesse? Ist es einfach nur die kriminelle Energie Einzelner, die hier zum Ausbruch kommt und die dann andere mitreißt oder gibt es z.B. Gründe, die in gesellschaftlichen Entwicklungen zu suchen sind?
Die ersten Kommentare deutscher Politiker verweisen auf eine gelungene soziale Integration und halten Vorkommnisse wie in England in Deutschland für unwahrscheinlich. Da sich bislang noch keine „Unruheexperten“ ähnlich den besonders beim Fernsehen beliebten „Terrorismusexperten“ zu Wort gemeldet haben, haben wir einmal die Kommentare einiger bedeutender Tageszeitungen zusammengestellt, um einen Eindruck von der Beurteilung und Interpretation der Unruhen in England aus deutscher Sicht zu geben.
So schreibt das Hamburger Abendblatt:
„Doch der „Britische Sommer“ berührt ein Kernproblem moderner Gesellschaften. In der globalisierten Welt wachsen die Ansprüche an die Bildungsfähigkeit, an Arbeitsleistung und Flexibilität der Menschen in beängstigender Geschwindigkeit. Zunehmend leiden „Leistungsträger“ unter Burn-out-Syndromen. Aber was passiert mit jenen, die sich diesem kraftzehrenden Prozess verweigern, die nicht mithalten können oder wollen? Deren soziale Ausgangslage kaum glanzvolle Karrieren begünstigt? Unsere Gesellschaften zerreißen – in puncto Einkommen, Vermögen, Lebensperspektiven und nicht zuletzt Bildung. Ein zu großer Teil der Menschen wird über Transferleistungen mitgeschleppt wie ein leerer Waggon und bleibt wirkungslos. Dies zehrt Gesellschaften finanziell wie soziokulturell aus.
Auch in Deutschland gibt es diese bedenkliche Entwicklung …“
Unter der Überschrift „Verzweifelt und wütend bis aufs Blut“ schreibt die Süddeutsche Zeitung:
„Es ist kein Zufall, dass kluge Beobachter eine Parallele zwischen den Volksaufständen im arabischen Frühling und den Straßenschlachten des Londoner Sommers ziehen. Die britischen Teens in ihren Kapuzenjacken mögen Bürger einer funktionierenden Demokratie sein, die sich zudem rühmt, die älteste der Welt zu sein. Doch von Wahlen versprechen sie sich nichts, denn auch die werden nichts an ihrer persönlichen Zukunft ändern. Diese stellt sich so trübe dar wie die Aussicht junger Menschen in Kairo oder Sanaa: Arbeitslosigkeit, Gelegenheitsjobs, stattliche Almosen und vielleicht ein wenig Kleinkriminalität, um sich über Wasser zu halten. Die Botschaft für Britanniens Unterklasse könnte eindeutiger nicht sein: einmal arm, immer arm, und das gilt selbstverständlich auch für eure Kinder und Enkel. Ihr habt mehr Chancen einen Sechser im Lotto zu tippen, als aus eurer Klasse auszubrechen.
Ein rein britisches Problem sind die Krawalle dennoch nicht. Soziale Not gibt es überall in Europa, wo klamme Staaten knapsen und knausern müssen. Und überall sind es die Teenager und die Zwanzigjährigen, die den von der Nachkriegsgeneration angehäuften Schuldenberg abtragen werden. Schon jetzt nennt man sie die Lost Generation, die verlorene Generation. Die Jugendlichen in London sind nur ihre hässliche Kehrseite. Aber verloren fühlen sie sich alle.“
„In Flammen“ überschreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihren Kommentar
„Sicher wird jetzt wieder über die hohe Jugendarbeitslosigkeit, über soziale Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit geredet werden. Das sind die Stichwörter, die immer zur Erklärung, wenn nicht zur Rechtfertigung dienen müssen, wenn Jugendliche ihrer Gewaltbereitschaft freien Lauf lassen und schon gar die Autorität des Staates nicht anerkennen. Vermutlich wird auch noch die britische Regierung wegen ihrer Sparpolitik zum Hauptschuldigen erklärt werden. Ja, triste soziale Verhältnisse können trist sein, aber sie sind keine Rechtfertigung für Gesetzlosigkeit. Die Politiker, die für die Polizisten Verantwortung tragen, sollten zuerst überlegen, ob die „sanfte“ britische Polizeiarbeit zeitgemäß ist – oder eine Einladung zu brutaler Straßenkriminalität.“
„Liebes London“ schreibt der vieler Orts gefürchtete F.J. Wagner in seiner Post von Wagner in BILD
„Ich weiß nicht, was das für Menschen sind, die London in Schutt und Asche legen wollen, dieses großartige London. Covent Garden, Tate Gallery.
London ist auch die Queen. Die Queen über eine Feuerleiter mit angefackeltem Kleid zu retten, wäre das Ende von England.
Der Mob, der heute England anzündet, ist nicht ideologisch, politisch. Sie zünden Häuser an, klauen Handys, treten Fensterscheiben ein.
7- bis 14-jährige sollen unter diesen Untätern sein. Wir modernen Menschen sind Hurrikans gewöhnt, Vulkanausbrüche, Erdbeben – dieses menschliche Erdbeben macht uns hilflos. Wo haben wir Fehler gemacht?
Wenn man England anzünden kann, dann kann man auch Deutschland anzünden. Man kriegt Angst.
„Gier frisst Werte auf“ meint der Leitartikel der Frankfurter Rundschau
„Soll man wütend auf diese Jugendlichen sein, diese wild gewordenen Kapuzen, diese andere Art von homegrown Terrorist? Nein, das wäre zu einfach. Das Land haben schon ganz andere ruiniert. Die Jugendlichen sind ja nur das Produkt einer Gesellschaft, die die Orientierung schon lange verloren hat.
Es gärte schon lange unter der Oberfläche der Gesellschaft, aber außer ein paar Popstars traute sich niemand, das anzusprechen. „I predigt a rotzot“ sangen die Kaiser Chiefs aus Lieds, wo es letzte Nacht auch brannte. (Anmerkung der Bürgerlobby Redaktion: Die Kaiser Chiefs stammen aus Leeds und sie sangen „I predict a riot„ Der Fehler existiert übrigens nur in der print-Ausgabe)Auch wenn die Brände gelöscht sind, die Straßen aufgeräumt, werden die tieferen Probleme nicht verschwinden. Großbritannien muss sich einer Diskussion über seine Werte stellen. Sie bräuchten eigentlich einen Thilo Sarrazin, der unangenehmen Wahrheiten ausspricht. Es würde sich dafür vielleicht David Cameron selbst eignen, der superreiche Premierminister mit seiner Baroness-Frau, der ausgerechnet jetzt die Briten durch schwerste Zeiten führen muss.
Aber wahrscheinlicher wird es so sein wie immer. Die Briten werden wieder in ihre übliche stoische Mentalität verfallen. „Keep calm and carry on.“ Bis zur nächsten Randale.
„London außer Kontrolle“ heißt es in der Nassauische Neue Presse
„Schlicht und einfach Kriminalität“, sagt nun Premier David Cameron. Angesichts von Brandstiftung und Diebstahl ist das nicht falsch. Aber wahr eben auch nicht. Der Aufruhr hat in einem der heruntergekommensten Problemviertel Londons begonnen. Die Hälfte der Kinder von Tottenham lebt in Armut, ein Viertel der Jugendlichen ist arbeitslos. Seit die Regierung die wöchentlichen 30 Pfund Zuschuss zum Lebensunterhalt auch noch gestrichen hat, fällt für die Begabteren das Abi aus. Opfer auch sie …
In Neukölln, in Marzahn, in Moabit fühlt sich die Hauptstadt für viele Berliner sehr unsexy an. Keine zehn S-Bahn-Minuten von Kanzlerinnenamt und Bundestag sind im Jahr 2011 fast drei Viertel aller Kinder arm. Werden sie demnächst auch randalieren, wie die Siebenjährigen von Tottenham?
Das Handelsblatt „Nackte Gewalt, schwacher Staat“
„Die Krawalle offenbaren grundlegende gesellschaftliche Probleme, die weit über London und England hinausgehen. Sie sitzen zu tief, als die Haushalts- und Sozialpolitik kurzfristig Einfluss hätte. Plünderungen gab es nicht nur in sozialen Brennpunkten, sondern auch im noblen Stadtteil Notting Hill und dem bei der Mittelklasse beliebten Clapham. In den Ausschreitungen manifestiert sich der Zerfall der Gesellschaft an ihren Rändern, getrieben durch eine tief zementierte Ungleichheit, erodierte soziale Normen, viel Frust und keine Perspektiven für die Unterschicht.“
Das Schicksal der Randaleopfer ist für die taz das Thema „Die unregierbare Weltstadt“
„Mit Sozialprotest hat das, was sich auf Londons Straßen abspielt, nichts zu tun. Es gibt bei den Plünderern weder klare politische Ziele noch identifizierbare Bewegungen oder Führungspersönlichkeiten. Und es sind vor allem die Opfer, denen jetzt der soziale Absturz droht, darunter zahlreiche kleine Geschäftsleute am Existenzminimum, Säulen ihrer lokalen Gemeinschaften, die jetzt vor dem Ruin stehen, während ihre Kunden zu den besser gesicherten Shopping-Malls und Supermärkten abwandern.“
„Jugend ohne Plan“ meint die Die Welt
„Die Jugend Europas ist die Zukunft des Kontinents. Ihr lautsprecherischer Teil motzt, heult und demonstriert in den Hauptstädten und formuliert in jedes Mikrofon, das man ihm entgegenhält, denkbar pathetisch Ansprüche. Im Deutschlandfunk darf eine französische Aktivistin der „Generation Praktikum“ derzeit jeden zweiten Tag ihr larmoyantes j’accuse voller Selbstmitleid und Gefühlsduselei verbreiten. Ein bemerkenswertes Dokument gesellschaftlicher Luxusverwahrlosung in Kombination mit einem naiven Staatssozialismus, der umverteilt, reguliert und Stagnation auf hohem Niveau einklagt. Die Jugend ignoriert die enorme Krise, in der Europa gerade steht, und verlangt selbstmitleidig mehr für sich.
Deshalb sollte man die europäischen Proteste der letzten Wochen und Monate nicht als ein emanzipatorisches Projekt verklären, sondern als Endmoräne jenes alten Europa, das hohe Ansprüche mit wenig Eigeninitiative verband und den ökonomischen Realitäten auswich.“
Zusammenfassend lässt sich aus diesen Kommentaren lesen, dass auch der sogenannte Qualitätsjournalismus es nicht immer schafft, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken. Wer Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit nur als billiges Argument für Gewaltbereitschaft verstehen will, der scheint noch nichts davon gehört zu haben, dass auch in Deutschland bis zu zwei Millionen Jugendliche und junge Erwachsene arm, arbeitslos und perspektivlos sind.
Dass die Randale in England ohne erkennbare Führungspersönlichkeiten abläuft, hat vielleicht nichts damit zu tun, dass es keine solchen gibt als vielmehr damit, dass die neuen Kommunikationsmittel das Megaphon und damit den Auftritt öffentlicher Einpeitscher überflüssig macht.
Anstatt mit Beteuerungen wie „Es ist nicht anzunehmen, dass es in Deutschland zu ähnlichen Entwicklungen wie in England kommen wird“, ein Gefühl vermeintlicher Sicherheit schaffen zu wollen, sollten sich Deutschlands Politiker lieber ernsthaft und jenseits aller Sonntagsreden darum kümmern, das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Bildung für alle durchzusetzen und für die Abschaffung sozialer Schranken im Bildungswesen zu sorgen.
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