Nach den Ereignissen von Winnenden ist das ganze Land in Aufruhr. Die Gesetzesverschärfer liegen im Wettbewerb mit den Online-Spiele-Verbietern. Berufenen und unberufene Psychologen und Psychiater versuchen sich an Erklärungen für das Verhalten eines jungen Mannes, den keiner von ihnen kennt. Und die Berufsbetroffenen sind – wie immer – betroffen.
Ausgerechnet unser Bundesinnenminister, der an sich bekannt ist für seine Liebe zur „Verschärfung“, hat in diesem Zusammenhang eine bemerkens- und nachdenkenswerte Äußerung getan. Er sprach nämlich davon, dass wir alle uns einmal fragen müssen, warum sich Gewaltspiele bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen einer so großen Beliebtheit erfreuen. In den Kontext dieser Frage passt der Beitrag von Thomas Strobl, der uns freundlicherweise gestattet hat seinen Beitrag in unsere Seite zu integrieren. Vielen Dank!
Non vitae sed solum rei oeconomicae discimus?
März 2009, 16:14 UhrEs war vorhersehbar, dass die bestürzte Republik in der Debatte um den Amoklauf von Winnenden die Schuld bei allen möglichen Verdächtigen suchen würde, vom geschmacklosen Computerspiel bis zu den sorglosen Eltern, von den überforderten Schulbehörden bis zum unaufmerksamen Freundeskreis; kaum ein Wort jedoch über das eigentliche Übel, das anzusprechen wir uns scheuen, weil unangenehm, unangepasst, unzeitgemäß, noch dazu höchst unpassend, in einem – in seinem PISA-Stolz ohnehin gekränkten – deutschen Bildungsbürgertum: die Schule ist zu einem verlotterten Ort geworden, einer Verwahranstalt für Kinder und Jugendliche, die jedem humboldtschen Ideal von Bildung Hohn spottet, einer standardisierten Geistaufbereitungsmaschine für den kommerziellen Zweck, vor der sich selbst und vor allem ein Seneca, der die antiken Philosophenschulen mit seinem bekannten Zitat zu mehr Wirklichkeitsnähe ermahnte, mit Grauen abwenden würde.
Der das hier schreibt, geht hauptberuflich einer ehrbaren, wenn auch neuerdings mit gelegentlich negativer Konnotation in den Schlagzeilen befindlichen Profession nach, die neudeutsch-feuilletonistisch als „Manager“ bezeichnet wird; engagiert sich in seiner Freizeit als Elternsprecher einer örtlichen Grundschule, und kam in seinen Jugendtagen noch in den Genuss eines hervorragenden Schulbildungsangebots; selbiges konnte er zwar leider nicht in vollem Umfang in Anspruch zu nehmen, weil er – wie es auf Österreichisch so schön heißt – im Gymnasium eine „faule Sau“ war. Gleichwohl hinterließ aber auch das Wenige, das ich aus meinen insgesamt 12 Schuljahren mit ins Leben nehmen konnte, deutliche Spuren, und in der Retrospektive bedaure ich natürlich wie jeder andere auch, dass ich das, was so reichlich vorhanden gewesen wäre, nur in so spärlichem Umfang zu nutzen wusste. Aber immerhin: sollte ich jemals in die Verlegenheit kommen, meine Memoiren schreiben zu müssen, dann werde ich darin als zentrales Leitmotiv meines Lebens den Satz würdigen, den mein langjähriger Lateinlehrer immer einzuwerfen pflegte, wenn seine Mühen in der lehrplanmäßigen Kerndisziplin wieder einmal nicht den erhofften Erfolg zeitigten: „Wenn’s bei mir scho ned Ladein leants, doann suillts wenigstans Deitsch learna!“
Er war der beste Lehrer, den ich je hatte. Mein Erfolg in Latein war zwar nicht berauschend, aber ich schaffte immerhin das Abitur, und hatte – was wesentlich wichtiger war – eine Ausgangsbasis für mein weiteres Leben: non scholae sed vitae discimus – dieser Professor hatte den Sinn der Botschaft sehr wohl verstanden, er verschaffte uns, seinen Schülern, ein Rüstzeug, einen Basis-Werkzeugkasten, und schickte uns damit auf die Reise. Wohin? – Ganz egal wohin; wo der Weg eben hinführte. Und das schreibe ich nicht nur schöngeistig so dahin: in der Tat war ich mit 18 alles anderes als der Prototyp des karrieristischen Konzernkriegers, sondern dieser Teil meiner Biografie stellte sich eher zufällig ein, Jahre später.
Die heutige Schule ist nicht mehr der Ort, an der ich aus der Perspektive eines Vaters das wiederfinde, was ich als Schüler noch erfahren durfte; nicht der Ort, an den man gerne seine Kinder schickt, in ihrem wichtigsten, weil prägendsten Lebensabschnitt. Und daran gebe ich bestimmt nicht den Lehren die Schuld, zumindest nicht direkt: sie sind ebenfalls nur Opfer einer tragischen und selbstvergessenen kollektiven Schandtat, die kein geringerer als der ehemalige Bundeskanzler und heutige Energie-Lobbyist Gerhard Schröder auf den Punkt brachte, als er die Lehrer Niedersachsens in Bausch und Bogen als „faule Säcke“ bezeichnete, und dafür auch noch regen öffentlichen Applaus bekam. – WIR haben die Schule zu dem gemacht, was sie heute ist, wir haben sie verstümmelt und vergewaltigt, haben sie ihres ursprünglichsten und nobelsten Auftrags beraubt, und sie an den Katzentisch unserer Gesellschaft verwiesen. Wollten wir nicht unsere Kinder einmal mit dem Schlüssel zu einer besseren Welt ausstatten? War das nicht mal irgendwann unsere Maxime? In ihrem Interesse und unserem eigenen? – Wo stünde das denn heute noch ernsthaft zur Debatte? Wer schriebe sich denn das noch auf seine Fahnen, außer wahlkämpfenden Politikern, wenn sie sonntags ihre Blumensträußchen und bunte Kugelschreiber verteilen und des abends aus dem Talkshowsessel ihre verbalen Abziehbildchen durch den Äther schicken?
Wir, die dankbaren Günstlinge einer früheren, besseren Epoche, wir haben die Schule in Grund und Boden gewirtschaftet. Wir haben sie der Warenfiktion der Arbeit restlos anheimfallen lassen, nicht nur die Schule als Bildungsinstitution, sondern die Schulzeit als Lebensabschnitt all derer, die wir als wichtigsten und besten Teil unserer Gesellschaft gemeinsam hervorgebracht und früher auch mal so behandelt haben. Mit weit aufgerissenem Mund des Entsetzens betrachten wir diejenigen, in die wir als Generation unsere ganzen Hoffnungen setzen, ja setzen müssen, bei ihren „unerklärlichen“ Taten. Wir, die wir sie sehenden Auges um die wichtigste Zeit ihres Lebens betrogen haben, wir sind einmal mehr fassungslos, wenn erneut ein wahrhaft „Enthemmter“ ein Ventil für seine inneren Energien – bisweilen leider höchst destruktive Energien – findet, durch das sich der aufgestaute Frust, die verzweifelt abgebrochene Suche nach Sinn und der Schrei nach Aufmerksamkeit entladen. In unserer kollektiven Ratlosigkeit suchen wir Heil im transzendalen Reich des Unerklärlichen: „Wie konnte er nur?“ – zum Selbstschutz vermutlich, um unser kümmerliches gesellschaftliches Dasein zwischen BILD und Tagesschau irgendwie vergessen zu machen, um die traurige Lage, in die wir uns selbst gebracht haben, nicht vor uns und unseren Kindern eingestehen zu müssen: es ist halt so, nicht wahr? Da kann man gar nichts machen. Die Bildung muss sich an den Zwecken der Wirtschaft ausrichten, weil wir konkurrieren mit billigen Chinesen und smarten Indern, da bleibt für kindliche Unbedarftheit und humanistische Exkurse, über das lehrplangemäße Maß an Goethe und Kafka hinaus, halt wenig Zeit. Und Zeit ist Geld, wie wir wissen, und von beidem haben wir bekanntlich viel zu wenig. Da mutet es an wie ein schlechter Witz, dass beides, sowohl Geld als auch Zeit, im herrschenden akademischen Modell des ökonomischen Mainstreams keinerlei Rolle spielen, es aber im modernen Schulwesen gar nicht mehr schnell und kosteneffizient genug gehen kann, um dem wirtschaftlichen Betrieb neue „menschliche Ressourcen“ [Human Resources (HR), die Angelsachsen nennen das Kind wenigstens beim Namen] zuzuführen; und wie es sich für eine „lean“ Gesellschaft gehört, in einer möglichst flexiblen, standardisierten und ohne große Lernkurvenverzögerungen einsetzbaren Form, wahrhaft „just in time“: Die Schule als sozio-ökonomischer Kanban-Container. Bravo! Der professionelle „Operational Excellence“-Beauftragte in uns weiß: mehr kann man nicht erreichen.
Das Ökonomische hat die Gesellschaft in Geiselhaft genommen, das Lösegeld ist astronomisch hoch, aber nichtsdestotrotz in kleinen, unmarkierten Scheinen zu entrichten: unsere Kinder, traditioneller Formen der Selbstbestätigung und Anerkennung weitgehend beraubt, erniedrigen sich für ein wenig gesellschaftliche Anerkennung, für ein Quentchen „Sinn“, bei „Deutschland sucht den Superstar“ und ähnlichen Formaten medialen Masochismus; oder greifen kurzerhand zur Pistole und veranstalten ein Massaker: beides hilft, beides hebt heraus aus der unförmigen, sinnentleerten Masse einer taubstummen Gesellschaft. Im Nebenblog fragt mein Freund Fonsi unschuldig: „Ja, warum lesen sie denn keinen Voltaire und keinen Rilke?“ – Aber die Antwort hätte er sich gleich selber geben können: „Wozu?“ – Damit lässt sich heutzutage kein Blumentopf gewinnen, im Freundeskreis nicht, bei den Eltern nicht, in der Schule nicht, am Arbeitsmarkt nicht: du willst deine „5 minutes of fame?“ – Werde Counterstrike-Weltmeister oder bewirb dich als Kandidat bei Dieter Bohlen: auf der fünften Etage des Sloterdijkschen Kristallpalasts sind die Intelligentesten, Begabtesten und Besten nur mehr zweite Wahl: der Medienzirkus einer nihilistischen Gesellschaft schaukelt dich auch so auf die Titelseiten oder in die Tagesschau, und selbst wenn du der größte Depp des Jahrhunderts bist: deine Chancen werden dadurch nur besser.
Wer meint, hier schriebe ein verkappter Marxist, der wie üblich nur am bestehenden System und insbesondere der Marktwirtschaft herumnörgelt, der möge sich an die Worte von Karl Popper erinnern, diesem bewundernswerten Liberalen und glühenden Verfechter der „offenen Gesellschaft“:
- „Traditionen sind notwendig, um eine Art Bindeglied zu schaffen zwischen Institutionen und den Intentionen und Wertbegriffen der Individuen.“
- „Unter den Traditionen müssen wir jene zu den wichtigsten zählen, die den „moralischen Rahmen“ einer Gesellschaft bilden, und die ihren überlieferten Sinn für Gerechtigkeit und Anständigkeit verkörpern, sowie den von ihr erreichten Grad des moralischen Empfindens.“
- „Nichts ist gefährlicher als die Zerstörung dieses Rahmens, dieser Tradition. (Diese Zerstörung wurde vom Nazismus bewusst angestrebt). Sie muss letzten Endes zu einem zynischen Nihilismus führen – zur Missachtung und zur Auflösung aller menschlichen Werte.“
Leider konnte Popper die Entwicklungen der aktuellen Epoche nicht mehr erleben, sein Kommentar wäre interessant gewesen. Denn in Wahrheit versündigen sich vor allem die Liberalen an der nächsten Generation, in dem sie das höchste Prinzip des Liberalismus verraten: die ungehemmte, persönliche Entfaltung. – Die zwanghafte Unterordnung der Bildung unter ein bestimmtes Dogma, und sei es aus den Zwängen einer liberal geprägten Marktwirtschaft abgeleitet, kann selbst unmöglich als „liberal“ gelten.
Im Darwin-Jahr 2009 sollte zudem erwähnt werden dürfen, dass ein Liberaler von ganzem Herzen wie Popper, eine ausnehmend positive Interpretation der Evolution pflegte, in welcher es nicht primär der äußere Anpassungsdruck einer unerbittlichen Natur wäre, der das Individuum formt; vielmehr entspringt die Evolution dem Innersten: das Individuum entwickelt sich, es entdeckt neues, es formt seine Umwelt nach seinen Vorstellungen. Popper sprach dabei beileibe nicht nur über die Wirtschaft, nein, er meinte Kunst, Kultur, Sport, alle Gebiete, auf denen sich Menschen zu Höchstleistungen anspornen lassen, vor allem aus innerem Antrieb heraus. Aber in ökonomischer Hinsicht hätte Schumpeters innovativer Unternehmer genauso gut auch aus Poppers Feder stammen können: der kreative Zerstörer, der den Wettbewerb nicht nur passiv erlebt, sondern nach seinen Vorstellungen und zu seinem Vorteil formt; der Querdenker, der Nonkonformist, der Einzelgänger, der Typ mit den 1000 Flausen im Kopf; der, mit dem „die anderen“ irgendwie nicht gut können, der seinen eigenen Weg sucht, der versucht, der scheitert, der es erneut versucht – bis er schließlich Erfolg hat, und die Tür zu einer neuen, besseren Ära aufstößt; nicht nur für sich, sondern für die ganze Menschheit.
Das ist das liberale Menschenbild im besten Sinne. Wer von denen, die jetzt das Wort „unerklärlich“ in ihren Reden führen, getraute sich zu behaupten, dass es ein solches Menschenbild wäre, das unseren heutigen Bildungsfabriken zugrunde liegt? Welcher Politiker, der jetzt auf demagogisch-plakative Art seine wohlfeile Betroffenheit auf die Titelseiten zaubert, wagt sich aus den Reihen hervor und bricht für dieses Menschenbild eine Lanze, ohne gleich im selben Satz darauf hinzuweisen, dass dabei Budgetgrundsätze oder die internationale Wettbewerbsfähigkeit strengstens zu beachten wären? Welcher?
Betroffen und erstaunt zu sein, ob des vermeintlich „Unerklärlichen“, ist leichter. Und weil wir dazu nun schon mehrfach Gelegenheit hatten, wird es mit der Zeit auch immer mehr zur Routine; das trifft sich gut: wir werden nämlich noch des öfteren darauf zurückgreifen müssen.
Veröffentlicht 14. März 2009, 16:14 von Thomas Strobl
Quelle und Kommentare:www.faznet.de
Unter dem Titel „Progress in preventing injuries in the WHO europian region“ hat die Weltgesundheitsorganisation sich mit Fragen der Vorbeugung vor Verletzung und Förderung der Sicherheit beschäftigt. In diesem Zusammenhang stellt die WHO fest, dass es in vielen europäischen Ländern (ca. 60%) Programme zur Verhinderung jugendlicher Gewalt gibt, dass diese aber häufig nur Stückwerk sind und nur in ca. 17-21% der Fälle landesweite Verbreitung erfahren. Diese Zahlen legen die Vermutung nahe, dass es eine vorherrschende Tendenz gibt nur fallweise zu reagieren und nur in den wenigsten Fällen Gesamtkonzepte erarbeitet werden. WHO-Studie
red/dk/T.S.
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